Wie steht es heute um den „Untergang des Abendlandes“?

1923 erschien Oswald Spenglers berühmtestes Werk erstmals in der Gesamtausgabe und scheint seither ungebrochen aktuell zu sein. Zeit für eine Bestandsaufnahme, ob sich seine Prognosen seither bewahrheitet haben.

Um zu verstehen, warum Spengler das Abendland im Untergang begriffen sah, muss man seine Geschichtsphilosophie als ganzes begreifen. Seine unter anderem von Nietzsches ewiger Wiederkehr des Gleichen und Eduard Meyers Zyklentheorie inspirierte Weltsicht sieht alle Kulturen der Welt einen der Form nach gleichen Rhythmus durchlaufen: Sie entstehen als eine Laune der Natur, zeichnen sich in ihrer Frühzeit durch eine intensive metaphysische Schaffensphase aus, welche dann im Herbst der Kultur erstarrt, woraufhin Machtpolitik und Eroberungskriege Religion und Philosophie ablösen. Im letzten Stadium verkommt jede Kultur zur weltstädtischen Zivilisation, welche mit Transzendenz und Tradition nichts mehr anfangen kann, gegenüber ihrem eigenen kulturellen Erbe gleichgültig ist und schließlich von anderen, jüngeren Kulturen verdrängt wird.

Spengler sah das Abendland zu Beginn des 20. Jahrhunderts kurz vor diesem letzten Abschnitt. Die kreative Schaffensphase in Kunst und Religion, das naturnahe Dasein hatte es längst hinter sich, die großen philosophischen Systeme konnten auch nicht mehr erweitert werden. Analog zur Antike sah Spengler daher das Zeitalter des Cäsarismus aufkommen, in dem nicht mehr die Gedankenwelt Sokrates‘, sondern der Eroberungsdrang Gaius Julius Cäsars herrschen würde. Die Ereignisse ab 1933 schienen diese Strukturanalogie zu bestätigen, wenngleich Spengler selbst, der den Lauf der Dinge für unaufhaltsam hielt und seinen Zeitgenossen ansonsten riet, ihr Schicksal bejahend anzunehmen, dem Nationalsozialismus bis zu seinem Tod 1936 mit starken Vorbehalten gegenüberstand.

Die Endphase der Kultur des Abendlandes, in der diese endgültig verwelke, sah er für den Zeitraum bis 2200 vor. Die Zivilisation, bereits befreit von den religiösen und traditionalen Wurzeln, die den Zusammenhalt der Kultur kennzeichneten, vegetiert nun dahin, bis sie schließlich von anderen Kulturen abgelöst wird. Die Vorbereiter dieser Ablösung sind die weltbürgerlichen Pazifisten, die zur eigenen Kultur keinen Bezug mehr haben, anderen aber wiederum in deren aggressiver Expansion nicht entgegentreten wollen. Die „Weltverbesserer“, erkannte Spengler schon damals, bewirken die Abdankung des eigenen Volkes innerhalb der Geschichte „zugunsten anderer“ – „Der Weltfrieden ist jedesmal ein einseitiger Entschluss“ (S.782). Spengler führt an dieser Stelle aus, wie sich die hochzivilisierten Römer aufgrund ihrer mangelnden Verteidigungsbereitschaft der eigenen Kultur aus der Geschichte verabschiedeten und den germanischen Heerkaisern das Feld überließen. Auch aus anderen Kulturkreisen führt er Beispiele dafür auf, wie eine Kultur in ihrer Spätphase, die sich weltbürgerlich gibt und von Krieg nichts wissen will, von anderen Kulturen überrollt wird, die sich ganz und gar nicht weltbürgerlich geben und Krieg sehr wohl für eine Option halten.

Seit einigen Jahrzehnten sind wir nun Zeuge der letzten Phase des Abendlandes, die Spengler zwar größtenteils richtig beschrieb, die allerdings in ihrem Zeitablauf etwas straffer zu passieren scheint als es der Philosoph in den Zwanzigern für realistisch gehalten hat. Exakt strukturanalog zu den Abdankungen anderer Kulturen vor der abendländischen entwickelte sich in Europa Schritt für Schritt nach den Auflösungen der theologischen Systeme und der Hinterfragung aller Tradition eben dieser weltbürgerliche Geist, der das Ende jeder Kultur einläutet: Ein durchrationalisiertes Dasein, welches das Individuum als einzigen Bezugspunkt hat und nach Glück und Spaß strebt, zeitlos für den Augenblick lebt, gleichzeitig für den Erhalt der eigenen Kultur keine rationalen Kriterien mehr findet und folgerichtig darauf verzichtet. Dieser Zeitgeist glaubt, die Welt werde sich seinem Individualismus, Rationalismus und Ökonomismus anpassen, und alle würden in einer derartigen Weltkultur aufgehen. Dass es nur er selbst ist, welcher sich selbst auflöst, und die anderen Kulturen um ihn herum gar nicht daran denken, fällt ihm bis zu seinem Verschwinden nicht einmal auf.

Spengler war der Ansicht, der Lauf der Dinge lasse sich nicht ändern. Er forderte daher wie Nietzsche ein „dionysisches Ja-sagen“ zum eigenen Schicksal. Ob Sie, liebe Leser, damit einverstanden sind, bleibt Ihnen selbst überlassen.

Oswald Spengler: Der Untergang des Abendlandes. Albatros Verlag [C.H. Beck]

Quelle: Kassandra / Mai 2008